Die neusten Entwicklungen
Über drei Jahre nach dem Militärputsch herrscht weiter Chaos in Myanmar. Die Junta bekämpft den Widerstand mit aller Macht.
NZZ-Redaktion
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- Bei einem Luftangriff der Militärjunta sind in einem buddhistischen Kloster in Myanmar mindestens 16 Personen getötet worden. Etwa 50 weitere seien bei dem Angriff am Donnerstagmorgen (9. 5., Ortszeit) in der Magwe-Region im Zentrum des Landes verletzt worden, sagte ein Augenzeuge gegenüber der Deutschen Presse-Agentur.Das Militär habe angegriffen, als in dem Kloster in der Gemeinde Saw gerade eine Versammlung stattgefunden habe. An dem Treffen hätten unter anderem Mitglieder der örtlichen Verteidigungskräfte, die Widerstand gegen die Junta leisten, sowie mehrere Dorfvorsteher aus umliegenden Ortschaften teilgenommen, sagte der Mann weiter. Die Zahl der Toten könnte noch steigen. Auch der Abt des Klosters und mehrere Mönche kamen ums Leben. Das Kloster sei durch den Angriff völlig zerstört worden.
- Im Krisenland Myanmar hat die Militärjunta mit schweren Luftangriffen auf die Übernahme der wichtigen Handelsstadt Myawaddy durch Rebellengruppen reagiert. Seit Freitag habe die Armee über der Stadt an der Grenze zu Thailand mindestens 130 Bomben abgeworfen, berichteten die Rebellen des bewaffneten Flügels der Karen National Liberation Army (KNLA) und lokale Medien am Montag (22. 4.) übereinstimmend. Dabei sollen laut unbestätigten Berichten mindestens zehn Zivilisten ums Leben gekommen sein. Für Myanmars Junta war der Verlust Myawaddys ein weiterer schwerer Schlag, nachdem sie zuvor bereits einen Ort an der Grenze zu China an Rebellen der Kachin Independence Army (KIA) verloren hatte.
Inhaltsverzeichnis
- Wie ist die Situation in Myanmar?
- Was geschieht mit Aung San Suu Kyi?
- Wie steht es um die Widerstandsbewegung?
- Was ist der Hintergrund?
- Wer ist Aung San Suu Kyi?
- Welche Rolle spielt das Militär in Myanmar?
Wie ist die Situation in Myanmar?
In Myanmar, das früher Burma genannt wurde, hat das Militär am 1.Februar 2021 die zivile Führung um die De-facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi und die NLD-Partei (Nationale Liga für Demokratie) entmachtet und den Notstand ausgerufen. Im März 2023 löste die Junta die NLD auf. Die Partei habe es versäumt, sich unter den neuen Gesetzen der Militärführung für die nächste Parlamentswahl zu registrieren. Ein Datum für die versprochene Abstimmung gibt es noch immer nicht.
Die Militärregierung wird angeführt von General Min Aung Hlaing, der auch den Putsch kommandiert hat. Das Militär wollte nach eigenem Bekunden für ein Jahr die Kontrolle im Land übernehmen. Der Ausnahmezustand wurde inzwischen allerdings immer wieder verlängert.
Zwei Monate nach dem Militärputsch formierte sich eine alternative Zivilregierung. Zunächst handelt es sich um ein Komitee, das aus gewählten Parlamentariern besteht. Daraus soll eine Exilregierung hervorgehen, die sich um internationale Anerkennung bemühen will.
Auch nach dem Putsch bleibt die Lage in Myanmar instabil. So berichten die Vereinten Nationen zum ersten Jahrestag von furchtbarer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung. Laut der Gefangenenhilfsorganisation AAPP wurden seit dem Putsch mehr als 1500 Menschen getötet und fast 12000 festgenommen.
Bei Luftangriffen der Regierung kamen im Oktober 2022 rund 80 Menschen ums Leben, die ein Konzert besucht hatten. Bei einem Luftangriff des Militärs Anfang April 2023 auf das Dorf Pazigyi sollen über 150 Personen getötet worden sein. Nach Angaben des unabhängigen Forschungsinstituts ISP-Myanmar haben die Junta-Truppen seit ihrem Umsturz mehr als 20 Massaker an der Bevölkerung verübt.
Was geschieht mit Aung San Suu Kyi?
Suu Kyi, die De-facto-Regierungschefin von Myanmar, wird seit Juni 2022 in einem Gefängnis in der Hauptstadt Naypyidaw in Einzelhaft festgehalten, nachdem sie nach dem Militärputsch vom Februar 2021 zunächst unter Hausarrest gestellt worden war. Auch Diplomaten haben keinen Kontakt zu ihr.
Die Friedensnobelpreisträgerin wurde im Verlauf der letzten Monate mehrfach zu Gefängnisstrafen verurteilt. Im August 2022 sprach ein Gericht in Myanmar wegen angeblichen Wahlbetrugs eine Verurteilung zu drei Jahren Gefängnis mit Zwangsarbeit aus. Im Dezember nun wurde Suu Kyi auch wegen mehrerer Korruptionsvorwürfe schuldig gesprochen und zu weiteren sieben Jahren Haft verurteilt. Es handelte sich dabei um die letzten Urteile in insgesamt 19 Verfahren, die gegen die 77-Jährige eingeleitet worden waren.
Insgesamt wurde Suu Kyi damit wegen verschiedener angeblicher Vergehen – darunter auch Anstiftung zum Aufruhr und Verstösse gegen das Katastrophenschutzgesetz im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie – zu 33 Jahren Gefängnis verurteilt. Damit könnte sie in Zukunft, wie bereits in der Vergangenheit, von der Teilnahme an Wahlen ausgeschlossen sein.
Wie steht es um die Widerstandsbewegung?
In der Bevölkerung hat sich kurze Zeit nach dem Putsch Widerstand gegen die neue Militärregierung formiert. Zunächst legten unter anderem Angestellte in Spitälern und Laboren sowie Lehrer und Studenten ihre Arbeit nieder. In den ersten Wochen nach dem Putsch fanden regelmässig Demonstrationen statt, an denen sich grosse Menschenmassen beteiligten. Am 28.Februar 2021 kam es dabei erstmals zu massiver Gewalt seitens der Sicherheitskräfte, die auch scharfe Munition einsetzten. Bisher sollen nach Schätzungen der Gefangenenhilfsorganisation AAPP mehr als 1500 Menschen getötet und fast 12000 festgenommen sowie teilweise gefoltert worden sein.
Im September 2022 präsentierte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) eine Untersuchung. Sie dokumentierte sechs Fälle, bei denen Aktivisten entweder zu Tode gefoltert wurden oder wegen der Verweigerung medizinischer Versorgung gestorben sind. Diese Todesfälle seien nur die Spitze des Eisbergs des Leidens und der Folter durch das Militär und die Polizei, sagte die Myanmar-Expertin der Menschenrechtsorganisation Manny Maung.
Anfang September 2021 rief die Opposition zur Massenrevolte auf: Duwa Lashi La, der der Nationalen Einheitsregierung vorsteht, sagte in einer Rede, seine Schattenregierung rufe den Notstand aus. Es handele sich bei der Revolte um einen «Verteidigungskrieg», der in jeder Ecke des Landes geführt werden müsse. Die Truppe der ehemaligen Regierung, die People’s Defence Force (PDF), besteht aus verschiedenen ethnischen Minderheiten, die versuchen, dem Militärregime mit Anschlägen, Minen und selbstgebastelten Waffen etwas entgegenzusetzen. Das Regime hat sie als terroristisch eingestuft und geht hart gegen sie vor – unter anderem mit Bombardements von Dörfern und Städten.
Nach wie vor ist auch die friedliche Bewegung des zivilen Ungehorsams aktiv. Durch gezielte Boykotte der Produkte, die ein Wirtschaftskonglomerat des Militärs produziert, habe diese der Junta einen Schaden von einer Milliarde Dollar zugefügt, so der Uno-Sonderberichterstatter für Myanmar, Tom Andrews.
Um die militärische Dominanz der Putschisten zu brechen, müssten jedoch mehr Soldaten und Polizisten desertieren. Laut Schätzungen hat das myanmarische Militär, das offiziell Tatmadaw heisst, rund 350000 Soldaten, wobei unklar ist, wie viele einsatzfähig sind; zudem soll es 85000 Polizisten geben. Die Zahl der Deserteure liegt wahrscheinlich bei einigen hundert, stieg allerdings jüngst wegen wachsender Probleme innerhalb der Junta. Bereits desertierte Soldaten versuchen mit der Organisation People’s Soldiers andere Soldaten vom Ausstieg zu überzeugen.
People’s Soldiers’ defections strategy is making international headlines. The world must know how defections can win the Spring Revolution with the least bloodshed. Read here: https://t.co/laGiXZqeRe #WhatsHappeningInMyanmar #SupportPeopleSoldiers at https://t.co/XDQjcAhSIB pic.twitter.com/649AtV0T91
— People's Soldiers (@peoplesoldiers) November 1, 2021
Was ist der Hintergrund?
Eine dem Militär nahestehende Partei verlor die Parlamentswahlen vom November, aus denen die NLD von Aung San Suu Kyi als klare Siegerin hervorging. Das Militär beklagte Wahlbetrug, unabhängige Beobachter widersprechen dem. Aung San Suu Kyis Partei holte über 70 Prozent der Stimmen, sie ist jedoch auf die Zusammenarbeit mit dem Militär angewiesen, da laut Verfassung von 2008 ein Viertel der Sitze in den Parlamentskammern für Armeeangehörige reserviert ist. Nach den ursprünglichen Planungen hätte das neue Parlament am 1.Februar 2021 erstmals zusammenkommen sollen.
Wer ist Aung San Suu Kyi?
Aung San Suu Kyi ist die Anführerin und Ikone der Demokratisierungsbewegung im Land. Die Armee stellte sie in den vergangenen Jahrzehnten für insgesamt rund fünfzehn Jahre unter Hausarrest. Suu Kyi ist die Chefin der NLD, mit der sie 2015 und 2020 die Wahlen gewann. Dass sie sich während ihrer ersten Amtszeit als De-facto-Regierungschefin sehr offensichtlich mit der Armeeführung arrangierte, die immer noch eine wichtige Rolle innehat (im Grunde handelt es sich in Myanmar um eine «hybride» zivil-militärische Regierungsform), trug ihr viel Kritik aus dem Ausland ein. Nach dem sehr deutlichen Sieg der NLD im vergangenen Jahr wuchs die Hoffnung, dass sie in ihrer zweiten Amtszeit von ihrer bisher eher nationalistisch geprägten Politik abrücken würde.
Welche Rolle spielt das Militär in Myanmar?
Im Jahr 1962 putschten sich Generäle an die Macht. Das Militär beherrschte danach fast ein halbes Jahrhundert lang das Land. Aung San Suu Kyi setzte sich ab den 1980er Jahren für einen gewaltlosen Demokratisierungsprozess ein und stand fünfzehn Jahre unter Hausarrest.
Das Militär hat eine institutionalisierte Vetomacht inne und beäugt die zivil geführte Regierung seither kritisch. Generell riskiert jeder, der in den Verdacht gerät, sich gegen das Militär aufzulehnen, selbst zur Zielscheibe zu werden. Das Militär bestimmt weiter über Verteidigung und Sicherheit und will um jeden Preis die vermeintliche Einheit des Staates wahren, was oft als Vorwand für das brutale Vorgehen gegen Minderheiten dient.
So hat die Armee nicht nur Ende der 1980er Jahre auf die Bürger des Landes geschossen und die Demokratiebewegung zerschlagen. Laut der Gefangenenhilfsorganisation AAPP wurden in Myanmar in den vergangenen zwei Jahren fast 17000 Menschen inhaftiert und fast 2700 getötet. Sie bekämpft auch seit den 1960er Jahren auf brutale Weise Minderheiten im Osten des Landes.
Prominentestes Beispiel hierfür ist die muslimische Minderheit der Rohingya, gegen die das Militär letztmals im Jahr 2017 gewaltsam vorging und Hunderttausende von ihnen zu Flüchtlingen machte.
Seitdem steht der Vorwurf des Völkermords im Raum. Das Schweigen von Aung San Suu Kyi zum Thema Rohingya hat dem Ansehen der Friedensnobelpreisträgerin (Jahr 1991) international sehr geschadet. Nach der Vertreibung der Rohingya beging die Armee weitere Kriegsverbrechen im Krisenstaat Rakhine, dieses Mal an der buddhistischen Bevölkerung.
Die Militärregierung in Myanmar versucht unabhängigen Journalismus zu unterdrücken. Drei Journalisten erzählen, wie sie trotzdem weiter arbeiten.
Conradin Zellweger/ NZZ Video
Mit Agenturmaterial.
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